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RELIQUIEN 10. Oktober 2005
Die
doppelte Veronika
Von Alexander
Smoltczyk
Seit Jahrhunderten besitzt der Vatikan ein "Heiliges Schweißtuch",
das nicht von Menschenhand geschaffen sein soll und das Antlitz Christi
zeigt - eine fromme Fälschung, sagen nun deutsche Forscher. Das echte
Bild wollen sie in einem Abruzzenstädtchen aufgespürt haben.
Für eine Zisterzienserin der strengeren Observanz
ist Schwester Blandina von erstaunlicher Redseligkeit. Ihr Schweigegelübde
hat dem Ereignis nicht lange standgehalten.
"Sehen Sie es?"
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Angebliches "Schweißtuch der Veronika" (in Manoppello):
Hatte Jesus einen Bart?
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Die Einsiedlerin Blandina
Schlömer - 1943 geboren in Böhmen, aufgewachsen im Ruhrgebiet - sitzt
in der Wallfahrtskirche von Manoppello. Sie flüstert schnell und im Ruhrpottklang
von "Kongruenzen mit dem Nowgorod-Mandylion", vom Turiner Grabtuch
und von Muschelseide aus dem Meer. Von Haus aus sei sie übrigens Pharmazeutin
und male Ikonen.
"Sehen Sie es?"
Über dem Tabernakel im Altarraum steht eine silberne Monstranz, darin
ein vergoldeter Rahmen und darin wiederum: nichts. Nur eine Trübung. Eine
Art milchiger Schleier.
Erst aus der Nähe zeigt sich plötzlich ein Gesicht. Offenbar gemalt auf
ein hauchfeines Gespinst. Bei bestimmtem Licht scheint es im Rahmen zu
schweben wie ein Hologramm. Aber es ist, laut Inschrift, 400 Jahre alt,
mindestens.
Das Bild zeigt einen bärtigen Mann mit weit aufgerissenen Augen und anscheinend
gebrochener Nase, die Lippen wie mit einem Kajalstift gezeichnet und
der Mund leicht geöffnet, als wolle er etwas sagen.
"Mein Herr und mein Gott!" Das sagte Kardinal Joachim Meisner,
als er im Frühjahr zum ersten Mal dieses Bildnis sah. Dann bekreuzigte
sich der Kölner Erzbischof und kniete nieder.
Schwester Blandina knipst einen Schalter an. Das Bild verschwindet, als
der Hintergrund sich erhellt, als wäre es auf spinnwebfeine Seide gemalt.
"Wir haben mikroskopische Aufnahmen gemacht", flüstert die Nonne.
"Es sind keine Farbspuren zu sehen." Das kann nicht sein. "Doch.
Dieses Bild ist nicht gemalt", sagt sie. "Nicht von Menschenhand."
Die Suche nach dem wahren Bild Christi hat die frühe Kunst im Abendland
bestimmt. Wie soll das Nicht-Darstellbare dargestellt werden? Und: Hatte
Jesus einen Bart?
Einer kleinen Gruppe hochverehrter Bilder wurde nachgesagt, aus dem Umfeld
des historischen Jesus zu kommen. Die beiden wichtigsten sind das Grabtuch
in Turin und das "Schweißtuch der Veronika" - ein sonderbar
durchscheinendes Gewebe, das bis vor 400 Jahren in Rom regelmäßig den
Gläubigen gezeigt wurde. Doch seither nur noch kurz und stets aus großer
Ferne.
Die Kirche von Manoppello liegt wenige Kilometer abseits der Autobahn
von Rom nach Pescara. Es ist ein abgelegener Ort. Hier in den Abruzzen
wusste man schon länger von dem rätselhaften Tuch in Manoppello. Es war
eines jener Wunderdinge, die sich im Lauf der Jahrhunderte in den Bergen
verfangen hatten. Ein Dorf weiter wird ein Herzmuskel verehrt, der Blutgruppe
AB.
Doch seit in der Zeitung stand, in Manoppello habe eine Zisterzienser-Nonne
womöglich das Sudarium, das wirkliche Schweißtuch der Veronika identifiziert,
kommen die Pilger in Busladungen zur Kirche hinauf. Die drei zuständigen
Kapuziner müssen Schichtdienste organisieren, um den Pilgern die Reliquie
zu erklären. Es sei, sagen sie dann, das "Bild der Bilder".
Da bekreuzigen sich die Leute.
Seit dem 6. Jahrhundert gibt es Berichte über ein Tuch mit dem Gesicht
Jesu. Es sei "nicht von Menschenhand gemalt" und "aus dem
Wasser gezogen", wie es in der frühesten Quelle aus Syrien heißt.
Auf dem Weg nach Golgatha sei Jesus, so die apokryphen Erzählungen, von
einer Frau ein Tuch gereicht worden, auf dem sich auf wunderbare Weise
sein Gesicht fixiert habe.
Das Mittelalter verehrte die heilige Veronika als jene Mitleidende, der
Jesus sein wahres Gesicht (lateinisch: "vera icon") geschenkt
habe. Die Reliquie wurde in Konstantinopel aufbewahrt. Um 700 gelangte
sie nach Rom und wurde dort - durchscheinend, von "keinen Weberhänden"
gewirkt und von "keines Malers Farbe gefärbt" - zum populärsten
Schaustück der Stadt.
Das Tuch der Veronika bildete den entscheidenden und abschließenden Moment
der Pilgerreise zum Grab Petri. Petrarca schrieb ein Sonett, Dante etliche
Verse über das "gesegnete Bild, Abdruck von seinem herrlichen Antlitz".
Im Stierkampf ist die "Veronika" noch heute die kunstvollste
Figur. Sie raubt dem Stier den Willen. Er verliert sein Gesicht.
1506 wurde mit dem Bau des heutigen Petersdoms begonnen. Den Grundstein
legte man genau unter den geplanten "Veronika-Pfeiler", den
sichersten Tresor für die kostbarste aller Reliquien. Die Bauarbeiten
dauerten ein Jahrhundert. 1601 wurde der Schleier der Veronika zum letzten
Mal öffentlich gezeigt, und wenige Jahre später wurde das Veronika-Oratorium
eingerissen: Die Reliquie hätte in ihren Pfeiler einziehen können. Wenn
sie denn noch da gewesen wäre.
Genau das bezweifelt aber der deutsche Jesuit Heinrich Pfeiffer, Kunsthistoriker
an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. "Das alte Tuch
der Veronika muss aus Rom verschwunden sein, vor über 400 Jahren schon",
sagt Pfeiffer. Nach seiner Theorie wurde das wahre Tuchbild bei den Umbauarbeiten
entwendet und gelangte nach Manoppello.
Pfeiffer kennt alle Quellen, die in irgendeiner Weise mit Urbildern Christi,
Grabtüchern, Mandylien zu tun haben. Mitte der Achtziger bekam Pfeiffer
Post von einer Zisterzienserin namens Blandina, die überzeugt war, in
Manoppello eine Entdeckung gemacht zu haben. Pfeiffer glaubte kein Wort.
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Badde-Buch
über "Veronika"-Tuch:
Mitreißender Kulturkrimi |
Er fuhr nach Manoppello,
erblickte im Rahmen "eine rechteckige Hostie" und ist seither
überzeugt, das wahre Veronika-Bild gefunden zu haben. Im "Veronika-Pfeiler"
des Petersdoms, so Pfeiffer, würde seit mehr als 400 Jahren ein Ersatz
aufbewahrt, "eine mehr oder weniger kostbare oder billige Attrappe".
Zu peinlich wäre es für den Kirchenstaat gewesen, sich eine der wichtigsten
Reliquien der Christenheit einfach klauen zu lassen. Und schlecht fürs
Geschäft.
Bei Strafe der Exkommunikation ließ Papst Urban VIII. alle Bilder mit
dem Tuchmotiv im Kirchenstaat einsammeln und verbrennen. Als sollte keine
Erinnerung mehr bleiben. Die Gläubigen haben ihr Tuch der Veronika seither
nur noch aus sehr großer Entfernung zu sehen bekommen, an jedem fünften
Sonntag der Fastenzeit.
Es gibt kein brauchbares Foto der Reliquie. Der einzige Nicht-Geistliche,
der sie in letzter Zeit aus der Nähe begutachten durfte, ist der deutsche
Vatikanist und Autor Paul Badde: "Es ist ein fleckiger grauschmutziger
Stoff ohne jede Kontur und ohne Bildspuren", sagt er. "Diese
Veronika ist nie durchsichtig gewesen. Für sie hätte man auch keinen nach
beiden Seiten offenen Rahmen gebraucht."
Denn in der Schatzkammer hinter der Sakristei des
Petersdoms wird - gleich neben einer antiken Folterzange - ein feingeschnitzter
Bilderrahmen mit zerbrochener Kristallscheibe ausgestellt: die Originalschatulle
des Veronika-Bildes. "Hier passt das Tuchbild von Manoppello exakt
hinein", sagt Badde. "Die angebliche Veronika im Pfeiler des
Petersdoms dagegen ist viel zu groß."
Schwester Blandinas Einsiedelei steht oberhalb der Kirche von Manoppello
unter einem Feigenbaum. Die beiden gemieteten Zimmer sind angefüllt mit
Vergrößerungen, Mikrostudien des Schleierbilds und selbstgemalten Ikonen.
"Ich habe genau nachgemessen", sagt sie. "Das Tuchbild
in Manoppello entspricht genau den Proportionen des Turiner Christusgesichts."
Bisher gibt es keine wissenschaftliche Untersuchung des Stoffes. Die Kapuzinermönche
weigern sich, das Tuch aus der Monstranz herauszunehmen, aus Angst, es
könnte sich in Luft auflösen. "Schon einmal", sagt Bruder Carmine,
"ist das Gesicht verschwunden, als man 1703 den Holzrahmen austauschen
wollte." Erst als man das Tuch wieder in den alten Rahmen gespannt
und lange genug gebetet habe, sei es wieder erschienen.
Das Gespinst sei, so die deutschen Tuchforscher, zu fein, um Seide sein
zu können. "Seide lässt sich nicht derart bemalen, dass das Bild
bei bestimmtem Licht praktisch verschwindet", sagt Badde. Er vermutet,
dass es sich bei dem Stoff um Byssus, um Muschelseide handeln könnte:
"Nur Byssus ist auf diese irisierende Weise lichtdurchlässig."
Die gesponnenen Ankerfäden der Edlen Steckmuschel (Pinna nobilis) wurden
in der Antike zu Stoffen gewebt, weicher als Kaschmir, durchscheinend
und kaum bezahlbar. Im Alten Testament wird Byssus des Öfteren erwähnt,
so im 2. Mose 25,4, wo Gott neben Delphinhäuten und Gold auch "Karmesinstoff,
Byssus und Ziegenhaar" als Opfergabe verlangt.
Ist in dem Abruzzenstädtchen also eine der wichtigsten Reliquien des Katholizismus
wiederentdeckt worden? Badde hat über die Schatzsuche einen mitreißend
verschlungenen Dan-Brown-Kulturkrimi geschrieben*. Der Kunstgeschichtler
Heinrich Pfeiffer ist inzwischen zum Ehrenbürger Manoppellos ernannt worden.
Allerdings behalten sich die Einwohner eine eigene Datierung vor: Ein
als Pilger verkleideter Engel habe an einem Sonntagmorgen des Jahres 1506
beim Doktor Leonelli an die Tür geklopft und ein Paket abgegeben.
Für Schwester Blandina ist das jedoch eine Zwecklegende. Die Überlieferung
hält den Verdacht des Diebstahls vom Dorf fern: Wer 1506 schon das Bild
besaß, kann es nicht hundert Jahre später von einem Reliquienräuber bekommen
haben. Demonstrativ bereitet Manoppello die 500-Jahr-Feier im nächsten
Jahr vor.
Denn gleichzeitig ist der Vatikan aufmerksam geworden. Der Kurie liegen
die Untersuchungen der deutschen Forscher vor, und es gibt Hinweise, dass
die These eines zweiten, womöglich älteren Veronika-Tuchs nicht für völlig
abwegig gehalten wird.
So ließ sich Anfang April der Kölner Erzbischof Kardinal Meisner eigens
für einen Tag kurz vor dem Konklave beurlauben, um nach Manoppello fahren
zu können.
Nachdem er stumm niedergekniet war, gab Schwester Blandina ihm ein Büschel
Muschelseide. Dann fuhr Meisner zurück nach Rom, um seinem Freund, dem
Kardinaldekan, von dem Fund zu erzählen. Der hörte aufmerksam zu.
Und jetzt sitzt in einem abgelegenen Ort in den Abruzzen jeden Mittwoch
eine Zisterzienserin der strengeren Observanz vor ihrem Radio und verfolgt,
wie in jeder der Ansprachen des Papstes Benedikt XVI. vom "Angesicht
Gottes" die Rede ist.
"Sehen Sie?"
Paul
Badde: "Das Muschelseidentuch. Auf der Suche nach dem wahren Antlitz
Jesu". Ullstein Verlag, Berlin; 304 Seiten; 22 Euro.
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